Nietzsche und die psychiatrische Welt

Internationale Tagung, 16. - 18. September 2010, Weimar

Nietzsches Verhältnis zur Psychiatrie kennt man vor allem durch sein Dasein als Patient. Er litt lebenslang an psychosomatischen Beschwerden, zeigte im Spätwerk Züge wahnhaften Denkens und sein Leben endete in geistiger Umnachtung. Diese Phänomene pro­vozierten schon früh pathographische Spekulationen darüber, welchen Einfluss sein Kranksein auf die Kunst des Denkens hatte. Diesem Thema widmete sich Nietzsche selbst ausführlich und seine Gedanken regten auch die pathographische Forschung an. Sie kommt auf der Tagung in klinischer und theoretischer Perspektive zur Sprache.

Die philosophische Psychotherapie, die in ihrer Frage nach der guten Lebensführung und sinnvollen Lebenskunst eigenständig an die Medizin anknüpft, verdankt ihr modernes Profil nicht zuletzt den Anregungen Nietzsches. Im Rekurs auf Sokrates wird er als Dia­gnostiker der modernen Seele vorgestellt und zudem seine aktuelle Bedeutung für eine philosophische Medizin ausgelotet. Die Kunst des Pathologisierens, die Nietzsche im Spätwerk zur Meisterschaft brachte, erfährt als Schattenseite der Pathographie ebenfalls eine Würdigung.

Matthias Politycki, der in der Rolle des akademischen Philosophen Nietzsches Dialektik der Krankheit bedacht hatte, wird in sei­nem Festvortrag als Schriftsteller und Dichter ungleich subjektivere Überlegungen anstellen, was Nietzsches Konstellation von Kunst und Krankheit für unsere Zeit bedeuten kann. Weitere ästhetische Annäherungen an Nietzsches Denken im Horizont der Krankheit kommen im historischen Rückblick auf Thomas Mann und Giorgio de Chirico zur Sprache. Anschließend wird Alwa Glebe als Videokünstlerin ihre Auseinandersetzung mit Person und Werk des eben­falls an Migräne erkranken Nietzsche darstellen.

Weniger bekannt als die Tatsache seiner Krankheit ist, dass Nietz­sche um 1900 den wissenschaftlichen Diskurs in Psychotherapie und Psychiatrie maßgeblich prägte. Ohne seine moralpsychologischen Einsichten wäre die Psychoanalyse in ihrer klassischen Gestalt nicht denkbar. Auf andere Weise gingen seine psychodynamischen Ideen in die akademische und anthropologische Psychiatrie ein. Karl Jaspers und Ludwig Binswanger entfalteten sie unterschiedlich in der Nachfolge von William James, Max Weber und Martin Heidegger. Zudem nahm der sozialdarwinistische Diskurs Impulse Nietzsches auf, die auch in der psychiatrischen Vererbungslehre ihre markanten Spuren hinterließen.

Internationale Tagung in Zusammenarbeit mit dem Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen.

Konzeption: Matthias Bormuth.
Ort: Goethe-Nationalmuseum / Nietzsche-Archiv, Weimar.

Weitere Infos und Programm: Nietzsche und die psychiatrische Welt.

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